Fahrraddiebstahl im urbanen Raum
Gähnende Leere. Dort wo das eigene Rad sein sollte. Fahrraddiebstahl. Eine Situation, die viele Mountainbiker schon einmal erlebt haben. Leider. Das Hirn friert kurz ein, als ob Eiskristalle die grauen Zellen lähmen. Der Körper fühlt sich an wie ein Schnellkochtopf mit klemmendem Überdruckventil, abgestellt auf einer rotglühenden Kochplatte.
Weniger drastisch, aber genauso zutreffend ist die Beschreibung der Gefühlslage in der Rad-los-Situation mit dem Wort ratlos oder „hilflos“. In über 20 Jahren MTB ist mir auf diese Art schon acht Mal ein schwer therapierbarer Phantomschmerz entstanden. Er lässt mich gelegentlich in schlaflosen Nächten bei ebay und Co. nach meinen Rädern suchen, angefangen beim 1993er Cannondale DeltaV mit Delle im Oberrohr. Wenn ich die Augen schließe, kann ich mich haargenau an die besonders geile Hardtailgeometrie eines RB 4X-Rahmens erinnern, der in Sachen flacher Lenkwinkel und Co. seiner Zeit voraus war.
Jüngst spürte ich wieder die Eiskristall-Isation im Schädel. Ein ausgehebeltes Fenster, ein gesprengtes Schloss. Für einen Augenblick waren alle Emotionen auf Null, die Regungen blockiert. Synapsen verstopft wie nach jahrelangem Crystal-Meth-Konsum. Kein fahrbares MTB blieb zurück. Plötzlich war ich faktisch nicht mehr in der Lage, mich Mountainbiker zu nennen. Einfach aufs Rad steigen? Aus. Vorbei.
Fast neun Jahre wohne ich in einer schönen Wohnung. Kein Szeneviertel, eher günstige Preise, radnah, also nah genug an Wald und Fluss, Zentrum und Kneipen. Einziges Manko sind Einbrüche. Vereitelte und geglückte Versuche erreichen längst den zweistelligen Bereich. Versicherungen schlossen Fahrräder nach dem zweiten erfolgreichen Bruch aus. Freiberufler im Bikebusiness erwirtschaften keine großen Reserven und schwupps hat man keinen Zugang mehr zu Maschinen, wie sie mich bei den Rennen ganz selbstverständlich umgeben. Darüber einen Text zu schreiben, fällt mir nicht leicht. Kommt der Kopf wieder auf Betriebstemperatur, wird jede Beschäftigung mit dem Thema von Emotionen überlagert, von Spekulationen über den Verbleib der Räder und von Vorurteilen betreffs der Zusammensetzung der Tätergruppe belastet. Ein Text, lesbar und unterhaltsam? Nur mit schwarzem Humor, der hilft ja zum Glück oft in solchen Situationen wenigstens ein kleines, bassiges Haha hervorzubringen.
Unterhaltungen darüber würzen wir im Freundeskreis mit scheinbar zusammenhanglosen Einwerfen des Begriffs Crystal Meth – das garantiert bitterböse Lacher, ist in Wirklichkeit aber ein Synonym dafür, was aus den Rädern geworden sein könnte. Sinnloser Sarkasmus? Sagen wir es so: Es ist ein Fakt im deutsch-tschechischen Grenzgebiet! Crystal Meth und andere Drogen muss man mancherorts nicht mehr mit Geld bezahlen. Hochwertige MTB-Teile werden auch akzeptiert. Doch Crystal hilft nur im Witz, der alle Zusammenhänge verkürzt, als allumfassende Problemerklärung.
In welchem schwarzen Loch landen all die geklauten Mountainbikes? Es müssen ja Tausende sein! So viele Drogen kann keiner konsumieren. Vermutlich könnte man ihre Menge im Tortendiagramm der jährlichen Verkaufszahlen eindrücklich visualisieren. Aber will das jemand in der Branche? Aus meiner Sicht sind Bemühungen, etwas zu erschweren, nicht zu erkennen, beispielsweise mit sicheren Seriennummern auf teuren Bauteilen. Lieferscheine enthalten ganz selten Rahmennummern, Teilenummern von hunderte Euro teuren Baugruppen an Rädern werden ab Hersteller nicht dokumentiert und im Verkauf dann auch fast nie.
Fakt ist, Mountainbikes erhöhen das Risiko, Opfer eines Diebstahls und/oder Einbruchs zu werden enorm, besonders bei Mehrfamilienhausbewohnern. Fakt ist auch, Besitzer eines Stadtfahrrads von hohem Wert haben spürbar höhere Chancen, dass ihr Keller erst später aufgebrochen wird. Warum? Weil es ein Fakt ist, dass es für Mountainbiketeile den besseren Schwarzmarkt gibt und damit steigt ihr Wert auf der dunklen Seite der Gesellschaft. Fakt ist, Menschen, die Dynamobeleuchtung mit Standlichtfunktion, SKS Bluemels Schutzbleche oder Gabeln mit Low-Rider-Ösen suchen, kaufen weniger häufig aus dubiosen Quellen. Das Preisgefüge zwischen Neu-, Discount- und Gebrauchtteilen ist dort halbwegs in Ordnung. Bei MTB-Teilen dagegen ist die Kluft zwischen EVP und Dafür-kann-man-es-haben-Preis bemerkenswert groß. Fakt ist auch, die Herkunft einer gebrauchten Gabel, Bremse oder groben Pedalen spielt bei vielen Mountainbikern keine Rolle. Vor allem in Großstädten. Ich wohne in einer solchen. Über eine halbe Million Menschen mit mir. Im S-Bahn-Einzugsgebiet meiner Stadt leben 1,7 Millionen Menschen. Mountainbikes mit Gravity- oder Dirt-Anstrich sind hier ausgerechnet bei einer Klientel als Statussymbol angekommen, die mir extrem fremd ist. Sich mit bösem Rapperblick und Niedrigpreisbier in der Hand auf einem breitbereiften Langhubbike vom kurzatmigen Kampfhund zu dessen Abkackplatz im Stadtpark ziehen zu lassen, ist das Traurigste, was ich mir im Zusammenhang mit MTBs vorstellen kann (übertroffen nur von Sportlern, die selbst Drogen konsumieren oder dealen). Leider sind aber Gravity-Clowns in meiner Stadt vielfach häufiger zu sehen, als zum Beispiel Teenies, die ernsthaft dem Sport Mountainbiken nachgehen und da wäre mir jede Spielart gleich recht.
Machen wir uns nix vor: Die Verkaufszahlen von Mountainbikes an Teenager haben ihre besten Zeiten hinter sich. Ich stand selbst in einem Radladen hinterm Tresen. In Städten sind Doppelbrückengabeln an Mountainbikes heute das, was in den 80ern Spoiler an Autos waren. Ein ursprünglich sportlich gerechtfertigtes Zubehör wird zur sinnentleerten Pose. All die BoXXer-Gabeln für regulär bezahlt zu halten, fällt mir schwer. Wie können sich so viele Typen weit entfernt vom eigentlichen Einsatzort Dinge leisten, die für mich finanziell in weite Ferne rücken? Vermutlich Schwarzmarkt? Man kommt selbst in Versuchung. Die Strafandrohungen sind harmlos, die Aufklärungsrate bei Bike-Diebstählen lächerlich und die Nachweisbarkeit von Hehlerei ist gering. Ich hatte mehrere, eher alte Räder. Wohne zur Miete, hätte gern viel mehr Platz, habe zwei Kinder. Die Anzahl Räder in der Wohnung ist begrenzt auf ein bis zwei. Den Keller zur Festung auszubauen gestattet der Vermieter nicht. Immer besser verstehe ich Altersgenossen, die das MTB gegen ein weniger dreckendes Plaste-Rennrad eintauschen, dass man einhändig im Flur unter die Decke hängt.
Rennradfahren taugt vielbeschäftigten Familienvätern oft auch, weil man da anders als beim windschattenfreien Waldradeln auch noch mit weniger guter Form schön in einer unterhaltsamen Gruppe mitrollen kann. Ich liebe aber den Dreck viel zu sehr und so kam meine Carbon-Maschine jahrelang selten vom Haken. Ich liebe Mountainbiken. Ich hasse es, dass Mountainbikes mich zur Zielscheibe von Leuten machen, die sich an anderen bereichern. Hass war mir immer ein Fremdwort und es wird auch selten thematisiert. Ich erinnerte mich daran, als vor wenigen Tagen ein mich sonst anwidernder Fußballwurstmillionär dieses Wort in den Mund nahm und meinte, er müsse da was in sich bekämpfen. Obwohl er und ich in getrennten Universen leben, deren einzige Verbindung die Packung Nürnberger Bratwürste im Discounterregal ist – ich entdeckte eine Parallele! Hass bekämpfen. Sieben sogenannte „Totsünden“ kennt die christliche Welt, Hass ist eine. Man mag das nicht teilen, aber jeder wird zugeben, dass Hass genau wie die anderen sechs Verhaltensweisen den Blick verstellt. Als Einbruchopfer kann man keinen bestimmten Täter hassen. Die Emotion klemmt in einem. Man grenzt mögliche Tätergruppen ein. Beschaffungskriminalität ist eine wahrscheinliche Erklärung. In meinen Fällen liegt nahe, dass die Täter nicht weit entfernt wohnen. Was ich hasse, wirklich, das ist das, was mit mir als Opfer passiert. Ich verändere mich, meine Wahrnehmung der Welt. Meine rege Assoziationsfähigkeit bringt eins und eins zusammen. Irgendwann scannt man jeden und alles. Zusammengestückelte MTBs, mit unlogischem Teilemix, Scheibenbremsräder im Canti-Only-Rahmen? Verdächtig! Der Pizza-Ausfahrer mit der eindimensionalen Mimik – sieht der nicht zunehmend verbrauchter aus? Quasi wie das fehlende mittlere Bild der Crystal-Meth-User-Vorher-Nachher-Reihe!? Ich ermahne mich zur Unschuldsvermutung zurückzukehren. Es strengt an.
Wie steht es nun um meine MTB-Ambitionen? Freunde haben sich bemüht, mich schnell mit etwas Fahrbarem zu versorgen. Ex-MDC-Champ Christoph Ullrich hat mir sogar einen tadellosen Stevens-XC-Klassiker geschenkt. Danke dafür! Die 90er-Jahre-achtfach-XT ist erstaunlich knackig! Die Geometrie lang, steil und vor der Zeit. Aber das ist egal, denn es ist ein Mountainbike. Es besitzt eine erstaunliche Eigenschaft. Fährt man damit durch den Wald, klart es auf. Entzugserscheinungen verschwinden. Das Hirn taut auf. Kristallklar weiß man, Biken ist die einzig gute Droge!